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 „Denn besiegt ist nur, wer den Mut verliert...“

Kann „Dr. Flipper“ behinderten Kindern helfen? Ja, sagt der US-Psychologe und Erfinder der Delphin-Therapie, Dr. David Nathanson. Das Prinzip ist einfach: Die kleinen Patienten müssen einfache Aufgaben erledigen. Zur Belohnung dürfen sie mit den Tümmlern spielen. Heilung ist zwar nicht möglich, aber eine Veränderung des Sozial- und Lernverhaltens durch Anreiz. Michelle, ein dreijähriges Mädchen aus Emmerthal, soll im September die Chance bekommen, an dem 12 500 Euro teuren Rehabilitationsprogramm in Florida teilzunehmen. Nachbarn und Vereine sammeln seit Wochen Spenden.

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Dr. Flipper bei der Arbeit: Beim Spielen mit den intelligenten und einfühlsamen Meeressäugern lernen behinderte Kinder laut Dr. Dave Nathanson aus Florida viermal schneller.

Von Ulrich Behmann

Emmerthal. Als Michelle am 29. Oktober 1998 im Kreiskrankenhaus an der Wilhelmstraße per Not-Kaiserschnitt auf die Welt geholt wird, ist sie in Lebensgefahr: In der Gebärmutter haben Viren den Embryo attackiert. Bis heute ist unbekannt, welcher aggressive Erreger die Entzündung von Lunge, Bauchfell und Gehirn verursacht hat. Das 3010 Gramm schwere Baby wird sofort auf die Intensivstation der Hamelner Kinderklinik gebracht. Das Team um Chefärztin Dr. Etta Jeremie tippt zunächst auf eine bakterielle Infektion, gibt Antibiotika – doch die Medikamente schlagen nicht an. Immerhin wissen die Ärzte jetzt, dass sie es mit einem Virus zu tun haben. Und sie wissen auch: Dagegen hilft kein Antibiotikum. Fünf Wochen liegt Michelle in der Klinik. Kinderärzte kämpfen tagein, tagaus um das Leben ihres kleinen Patienten. Hightech-Geräte unterstützen sie dabei. Das Baby kommt durch. Weihnachten 1998 ist der Säugling daheim bei seinen Eltern Rolf Becker und Ulrike Becker-Käse in Emmerthal. Noch weiß niemand, dass kleine Blutungen Narben im Gehirn des Säuglings hinterlassen haben, Michelle behindert ist, weil ihre rechte Körperseite gelähmt bleiben wird. Diese niederschlagende Diagnose wird im Januar festgestellt. Im Sozialpädiatrischen Zentrum Hannover. Die Eltern des Mädchen wollen sich mit – wie Mediziner es nennen – dem „schicksalhaften Ereignis“ nicht abfinden. Sie eilen von Arzt zu Arzt, von Klinik zu Klinik. Gut möglich, dass sich der Zustand bessern wird. Niemand weiß das so genau. Die Beckers lassen nichts unversucht: zweimal Krankengymnastik, einmal Frühförderung – Woche für Woche. Das Mädchen macht Fortschritte. Als es zwei Jahre alt ist, nimmt eine Ärztin den Eltern beinahe die ganze Hoffnung, als sie schreibt: „Michelle wird sich in absehbarer Zeit nicht selbstständig fortbewegen können.“ Niederschmetternd. In dem Buch mit dem Titel „Jeden Tag ein kleines Wunder“ der Autorin Kirsten Kuhnert hat Mutter Ulrike Becker-Käse einen Satz gelesen, der ihr bis heute nicht aus dem Gedächtnis gegangen ist: „Besiegt ist nur, wer den Mut verliert.“ Sie kämpft weiter, statt sich dem Schicksal zu ergeben. „Es war und ist unser Ansporn“, sagt Vater Rolf Becker, „es den Ärzten zu zeigen“. Obwohl der Schlosser vor der Geburt seiner Tochter gebaut hat und die Schulden drücken, gibt er Geld aus für eine Hippo-Therapie. Auf Pferderücken macht das kleine Mädchen in Dehmkerbrock Bekanntschaft mit großen Tieren. Sprache und Motorik entwickeln sich weiter.

Das heute dreijährige Mädchen lacht viel, ist aufgeweckt, kann Sätze wie eine Zweijährige bilden. „Es ist unglaublich, wieviel Kraft in unserer Tochter steckt“, freut sich der Vater. Doch Michelle ist auf Hilfe angewiesen. Nachts ruft sie alle zwei Stunden nach Mama oder Papa. Allein kann sie sich unter der Bettdecke nicht umdrehen. Rolf Becker hat ein Gestell aus Holz und Schaumstoff gebaut. Darin kann Michelle sitzen, ohne umzufallen. Im Wohnzimmer der Beckers steht eine batteriebetriebene Eisenbahn aus Kunststoff. Damit spielt das zierliche Mädchen besonders gern. Weil es die Lok per Fernsteuerung selbst bedienen kann. Von der Krankenkasse haben die Beckers einen so genannten Walker-Trainer bezahlt bekommen. Das Gestell sieht aus wie ein Folterinstrument. Es soll dem halbseitig gelähmten Kind die nötige Stabilität bei Gehversuchen geben. Mutter Ulrike Becker-Käse ist bereits geübt im Umgang mit Gurten und Ketten. Michelles Füßchen kommen in spezielle Schuhe, die von Gliederketten aus schwarzem Metall gehalten werden. Waden und Becken werden von Schlaufen gehalten. Auf vier Rollen kann das Kind laufen lernen. Im Herbst 2001 sehen die Beckers im Fernsehen einen Bericht über eine ganz besondere Therapieform, die in Amerika und Israel praktiziert wird. Im Internet recherchiert Michelles Vater. Er ist begeistert: Beim Schwimmen mit Delphinen und Therapeuten machen behinderte Kinder gute Fortschritte, steht dort geschrieben. Für die Beckers ist klar: „Michelle muss nach Florida.“ Am 7. Januar 2002 melden die Eltern ihre Tochter bei „Island Dolphin Care“ im fernen Key Largo an – wohl wissend, dass die Krankenkasse nicht zahlen wird und sie selbst die 12 500 Euro nicht aufbringen können. „Wenn du dein Kind von Herzen liebst und die Chance hast, ihm zu helfen, dann klammerst du dich an jeden Strohhalm“, sagt Vater Becker mit Tränen in den Augen. Von dem Düsseldorfer Verein „Dolphin Aid“, der die Emmerthaler berät, haben die Eltern erfahren, dass es eine zweijährige Wartezeit gibt. Umso erstaunter sind sie, als sie bereits am 27. Januar Antwort aus den USA erhalten. Die gute Nachricht: „Sie bekommen einen Therapieplatz. Am 9. September geht’s los.“ Nächtelang können die Beckers nicht schlafen. Eine Frage beschäftigt sie: Woher das Geld nehmen?

Die Nachbarn Friedgard und Wilfried Sölter machen den Beckers Mut: „Wir starten eine Hilfsaktion, sammeln Geld.“ Die Sölters gehen in der Siedlung von Haus zu Haus, von Geschäft zu Geschäft. „Die Kleine ist so ein süßer Sonnenschein. Der muss man einfach helfen“, sagt der DRK-Krankenpfleger. „Das habe ich mir zur Aufgabe gemacht.“ Der 41-Jährige wird zum Bettler für die gute Sache. Die Bäckerei Wittbold backt spontan kleine Delphine, verkauft sie zugunsten von Michelle. Und von jedem Brot des Monats gehen 50 Cent ins Sparschwein. Das Kernkraftwerk gibt 700, der DRK-Ortsverein Kirch-ohsen 500 Euro. Die TSG Emmerthal veranstaltet ein Benefiz-Spiel. Sogar der Handball-Bundesligist VfL/BHW Hameln unterstützt die Spendenaktion. „Am 27. Februar“, sagt Wilfried Sölter, „dürfen wir beim Heimspiel gegen Nordhorn für Michelle sammeln.“ Dass die Delphin-Therapie der kleinen Emmerthalerin helfen wird, ist keinesfalls gewiss. Aber wahrscheinlich. „Ich denke, dass eine intensive Förderung die Entwicklung des Kindes voranbringen wird“, sagt Chefärztin Dr. Etta Jeremie. Bewiesen ist noch nichts. Die amerikanische Therapieform wird gerade erst richtig erforscht. Von deutschen Wissenschaftlern. Am Institut für Sonderpädagogik der Universität Würzburg beobachtet ein zwölfköpfiges Team um den Psychologen Dr. Erwin Breitenbach seit 1998 Veränderungen im Sozialverhalten der Kinder, die mit Meeressäugern im Tiergarten Nürnberg trainieren. Die groß angelegte Studie ist zwar erst im Jahr 2005 abgeschlossen. Schon jetzt sagt Projektleiter Dr. Breitenbach: „Wir sind sehr optimistisch, dass die Therapie anschlägt. Die 25 von uns bislang beobachteten Mädchen und Jungen wurden durch das Schwimmen mit Delphinen aktiver, aufmerksamer, konzentrierter und wollten mehr sprechen lernen. Sie gehen auf die Welt zu.“ Worte, die den Beckers Mut machen. „Wir hoffen auf ein kleines Wunder“, sagt Mutter Ulrike Becker-Käse. Bei den Menschen, die ihrer Tochter mit Geldspenden helfen, möchte sich die Verkäuferin von ganzem Herzen bedanken. „Sie sind so gut zu Michelle, ohne uns zu kennen.“ Das kleine Mädchen freut sich schon auf die Reise – das Wort Delphin kann es schon sagen. Die Dolphin-Aid-Spendenkonto-Nummer lautet: 20002200 bei der Sparkasse Düsseldorf (BLZ: 30050110), Stichwort: Michelle Becker, Emmerthal.

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